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Buch der Woche 6 – M.G. Burgheim: Future Pop

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Buch der Woche 6 – M.G. Burgheim: Future Pop

Schon wieder ein deutsches Buch aus der Jahrtausendwende, komischer Zufall. Das nächste Buch führt uns nach Spanien, aber erst mal „Future Pop“. Ich habe es irgendwann mal in Berlin angelesen und war so angetan, dass ich es für mich bestellte.

Ein westdeutscher Mann, der in Brandenburg unterrichtet, schreibt über eine Berliner Frau, die in Brandenburg unterrichtet. (Nachtigall…)

Der Inhalt ist heftig und nachwirkend. Die Lehrerin Arietta beobachtet den Aufstieg der glatten, austauschbaren Popband DIE PIONIERE zu einer Jugendbewegung und letztendlich zu einer bürgerumfassenden Strömung, die politisch Einfluß nimmt. Gerade jetzt- im Zeichen der ähnlich gearteten poltriglauten AfD-bin ich sehr hellhörig, wenn es erst um den Ausschluss und dann um die Verfolgung von Minderheiten geht.

Arietta ist einige der wenigen, die sich wehrt und daraufhin  in vielen Lebensbereichen persönlich angegriffen wird und zu Schaden kommt. Sehr eindrucksvoll wird der Aufbau einer Diktatur an Grußformel, Kleidungsordnung, Hierarchien, Belohnung-und Bestrafungssystemen und dem letztendlich immer größer werdenden Einfluss auf alle Bereiche des Staates beschrieben. Es gibt hartes Internetbashing, Belohnungsdrogen, vergiftete Hunde, Straßenkämpe, Tote und weitere unschöne brutale Geschehnisse. Arietta zweifelt an sich selbst, da die große Masse an die Idee der PIONIERE glaubt und sich unreflektiert anschließt, wagt mit einigen wenigen Mitstreitern dann doch ein Aufbegehren.

Ich war bei den echten Pionieren (blau und rot) und bin seit dem Kindergarten indoktriniert worden (natürlich findet man als Kind alles toll und übt auch Granatenwerfen) – umso schmerzvoller ist die realistische Beschreibung von instrumentalisierter Erziehung gepaart mit Angst und keiner Möglichkeit des Vergleichs oder der Überprüfung. Kompliment an den Autor für diese sehr wirklichkeitsgetreue Darstellung der Massenmanipulation, die im schlimmsten Fall so funktioniert hat.

Obwohl viele schwierige Bereiche wie Hitlerdiktatur, DDR, Medieneinfluss, Korruption und am Wichtigsten, die Macht von vordergründig einfacher Musik a la Rammstein/Scooter/  Pet Shop Boys vermischt werden, gelingt es dem Buch zu fesseln und zu aktivieren. Sprachlich manchmal etwas zu aufgesetzt und oft doch zu arg offensichtlich auf den gewünschten Effekt abgezielend; in anderen Bereichen dafür sehr genau zuhörend.

Ein Buch, welches nachwirkt. Ich habe es Anfang Januar gelesen und immer wieder erinnere ich mich an Szenen, vor allem aber an das beängstigende Gefühl, ob man selbst oder die große Masse „normal“ denkt und handelt. Kann gern Pflichtlektüre der 10. Klassen werden.

Bestimmt hatte alles seine Richtigkeit und war eigentlich nur ein genialer Schachzug, um widerstreitende Interessen zu integrieren, ein Signal für eine bessere Zukunft. (…) Warum sollte sich der Staat nicht an der Finanzierung einer Popband beteiligen., zumal die Sache lukrativ war und allemal wirksamer als die üblichen Plakatwand-Appelle …

aus „Future Pop“

Nachdenklich grüßt Neja

Die Abrechnung – Januar

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Die Abrechnung – Januar

So, jetzt ist es soweit. Ich muss der Welt meine desaströse Finanzlage offenbaren und meine monatlichen Ausgaben erklären. Dabei zählen nur Barausgaben und Ausgaben mit der EC-Karte, sonst wird es zu verwirrend.

Ich werde für mich jeweils entscheiden, ob die Ausgabe notwendig oder überflüssig war. Wobei, wo sind da die Grenzen? Wo ziehe ICH die Grenzen? Notwendig sind eigentlich nur Wasser und Brot. Wo geht mein persönlicher Luxus los? Wieviel kann ich mir verbieten, ohne die Lebensfreude zu mindern? Sich alles, alles zu verkneifen, ist doch auch nicht das Wahre. Ich merke schon, dass wird nicht angenehm.

11,69 Bäcker ?? (Hier ne Brezel und da ein Brötchen, könnte man reduzieren, allerdings find ich das für drei Kinder und 4 Wochen okay.)

8,00 Lotto LUXUS

89,42 Lebensmittel ?? (Oje, ein großer Posten. Dabei ist das nur das Nachkaufen zum Wochenendeinkauf: Brot, Getränke, Obst und Gemüse….) Allerdings beim genauen Hinschauen öfter auch mal Käse, Jogurt, eine Zeitschrift, Chips für die Kinder- soll ich das unterlassen?

5,00 Lebensmittel LUXUS (Das ist die Lidl Pasta.)

34,45 Mittagessen für mich LUXUS (Ich könnte auf der Arbeit meine Brote rausholen…, will ich aber auch nicht immer. Etwas Sparpotiental ist hier drin.)

22,00 Abendessen NÖTIG (Teambildende Maßnahme)

49,23 Mittagessen für die Kinder ?? (davon 12,00 NÖTIG) Die Kinder essen aus Zeitgründen an zwei Tagen kein Schulessen, haben aber trotzdem einen langen Tag – würde es hier ein Brot tun? Ich glaube nicht.) Wobei, im Januar haben wir mit dem warmen Essen übertrieben.

29,00 Fahrkarten ich NÖTIG

57,00 Friseur LUXUS (Andererseits muss ich auch im Job etwas gepflegt aussehen.)

16,50 Schulkram NÖTIG (Billiger gehts immer, aber Zeit…)

21,92 Drogerie (Billiger gehts immer, aber Zeit…)

44,11 Tierbedarf (u.a. Katzenklo) Braucht eine Katze zwei Klos?

19,80 Kontaktlinsen ?? (Kann natürlich auch mit ner Brille rumlaufen, will ich aber nicht. Siehe Friseur.)

30,00 Kettenreparatur  ?? (Die Ketten lagen zwei Jahre bei mir herum, allein bekommt man das nicht hin. Hätte sie auch wegwerfen können, sind aber lange Begleiter.)

3,60 Parkgebühren ?? (Kann natürlich ewig nach einem nicht gebührenpflichtigen Parkplatz suchen, aber Zeit…)

7,50 Bücher LUXUS

4,55 Kaffee LUXUS

85,10 Tanken NÖTIG

14,9 Haushaltswaren (Billiger gehts immer, aber Zeit…)

50,11 Apotheke NÖTIG

10,75 Briefmarken NÖTIG

38,50 Archivkiste LUXUS

2,30 Blumen LUXUS

15,00 Tastatur (nicht akut nötig, bevor aber die Laptoptasten bei den Kinder kaputtgehen, ist das vorbeugend gedacht.)

31, 00 (Schmuck Kind und ich) LUXUS

So, insgesamt habe ich im Januar ungefähr 700€ ausgegeben, davon 130€ eindeutig nicht notwendige Ausgaben. Bei einigen Posten kann ich nicht festlegen, ob es noch notwendig oder schon Luxus ist. Dies ärgert mich, denn es handelt sich eigentlich um so selbstverständlichen Kram wie Essen, Drogerie und Haushaltswaren. Wie weit will und kann ich mich beschränken? Muss es immer nur das allerbilligste und niedrigwertigste sein? Warum kann ich meinen Kindernicht einfach so ein Überraschungsei oder eine Obstschale kaufen?

Und wieder einmal tritt zu Tage, dass alles auf die Formel Zeit oder Geld hinausläuft. Natürlich kann ich viel selbermachen, ewig einen Parkplatz suchen, alle Discounter nach Angeboten abfahren (nein, ablaufen, um Bnzin zu sparen), dann habe ich aber keine Zeit mehr, 30 Stunden arbeiten zu gehen.

Geärgert hat mich: mit meiner Qualifikation und meinem Job die zwei Packungen Lidl – Edelpasta als Luxus bezeichnen zu müssen. Müsen Bücher für 1 € wirklich Luxus für mich sein? Ich empfange doch kein Hartz 4, das muss mein Gehat doch hergeben?

Stolz bin ich: zweimal am reduzierten Modeschmuck-Aufsteller vorbeigekommen zu sein. Ich hatte sogar diverse Sachen in der Hand, habe aber alles wieder zurückgelegt, da ich mir die Frage: „Brauch ich das wirklich?“ eindeutig und unzweifelhaft mit „Nein!“ beantworten musste. Ich bin eine große Meisterin im Selbstbelügen und war diesmal knallehrlich zu mir. (Letztendlich habe ich dann doch einem anderem Schmuckgeschäft nicht wiederstehen können.)

Diese Aufstellung macht mich traurig und wütend. Meine Argumentationen für das Gehaltsgespräch werden schlüssiger.

Es grüßt Neja

Ach, reines Glück genießt doch nie, wer zahlen soll und weiß nicht wie.

Wilhelm Busch

Ich kauf dir eine schöne Schulzeit

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Ich kauf dir eine schöne Schulzeit

Nein Lehrer, LRS ist nicht heilbar! Und nein Schulleiterin, der Knoten wird nicht platzen. Wer gleich platzt, bin ich.
Vorgeschichte: Als ich wegen eines Arztbesuchs meine Kinder vormittags in der Schule abholte, fand ich Sohn 1 völlig aufgelöst und verheult im Flur sitzen. Rot im Gesicht, zappelnd, sich mit den Händen an den Kopf schlagend. Vor sich eine Leistungskontrolle, die er nachschreiben musste; was an sich völlig in Ordnung ist. Aber um ihn herum Kinder, die ständig zur Toilette eilten und vor denen er seine Tränen zu verstecken suchte. Er stand enorm unter Druck, die ihm die ablaufende Zeit, der Inhalt der Arbeit und die anderen Kinder machten. Der verzweifelte kleine Kerl – wie gern hätte ich ihn in die Arme genommen. Aber er musste sich vor mir quälen. Sohn 2 kam mir mit seiner Arbeit in ähnlichen Zustand von irgendwoher entgegen. Die Jungs waren geistig und körperlich total erledigt, es brauchte zwei Stunden großer Mutteraufmunterungskunst, bis ich sie wiedererkannte. Kann man für das Nachschreiben nicht eine andere Örtlichkeit im Schulgebäude finden? Muss man Kinder mit dieser Symptomatik 45 min allein lassen?
Meine Söhne haben leider das komplette Rundumsorgenpaket von ADHS/LRS/Dyskalkulie/AVWS/undkeine Ahnungwasnochkommt mitbekommen. Ich bin wirklich keine dieser Mütter, welche die Sprachstandsentwicklung auf den Monat genau herbeten kann und bei jeder Auffälligkeit sofort Hochbegabung/ADHS/Autismus/Hochsensibilität … schreit. Mir wäre es tausendmal lieber, sie wären stinknormal, mittelmäßig, von mir aus auch faul. Es wären uns literweise Tränen und quälende Gedanken erspart geblieben. Ich habe mich sehr schwer getan, jedes Jahr eine neue Diagnose zu akzeptieren, welche die Aussicht auf eine sorglose Schulzeit nochmals verschlechterte. Ich hätte aber gern noch dreimal so viel Zeit, Geld und Nerven für Ärzte, Therapien, Nachhilfen, Hilfsmittel investiert, wenn die Chance auf Besserung bestünde. Tut sie aber nicht. Meine Söhne haben einen IQ leicht über Normalwert, sind verbal sehr stark und sozial kompetent. Sie lesen, haben eine gute Allgemeinbildung und ein enormes Gedächtnis. Sie können aber nicht schreiben/rechnen/stillsitzen – und nur das zählt im deutschen Regelschulsystem.
Ich setze mich in Lehrerweiterbildungsseminare und versuchte am Wochenende einige Defizite aufzufangen. Ergebnis: viele Tränen, noch mehr Wut und kein Wochenende bei allen Beteiligten. 0,01% Erkenntniszuwachs bei den Betroffenen. Ist es das wert? Nachdem der letzte medizinische, therapeutische, pädagogische, heilpraktische und ich gestehe, esoterische Strohhalm verbraucht war, akzeptierte ich die Tatsachen und versuchte, den Schulalltag der Kinder erträglich zu gestalten. Bei der Recherche fanden sich tolle Sachen wie Förderunterricht, Nachteilsausgleich und Hilfsmittel wie eine Spracherkennungssoftware. Euphorisch wanderte ich zur Schule und bekam zu hören: „Wie, mündliche Abfrage? Dann wollen das ja alle.“ „Vorn soll er sitzen?“ „Geht nicht, er ist zu groß.“ „Einen Computer, der allein mitschreibt?“ „Jetzt hörn Sie aber auf!“ Seitdem wuseln wir uns mit zunehmender Frustration durch ausfallenden Förderunterricht und dem kompletten Desinteresse, mit einigen Ideen und didaktischen Hilfsmittel den Unterricht für die Kinder anzupassen. Schon eine Kopie des Tafelbildes, die man zu Hause in Ruhe abschreibt und dadurch den Stoff für den nächsten Test auch wirklich lernen kann, würde reichen. Das macht aber Arbeit, braucht Engagement und ein bisschen Herzblut – eigentlich Eigenschaften, die mindestens bei Grundschullehrern zu erwarten sind.
Als bewährten Vorschlag zur Problemlösung bat man mir hingegen den Verbleib in der Klassenstufe an. Wie lange sollen die Kinder denn verharren? Nur weil ich dreimal die Großschreibung lerne, muss ich sie nicht kapieren. Der vielbeschworene Knoten wird auch dann nicht platzen, wenn ich 100mal das gleiche Wort übe. LRS-Kindern fällt drei Tage später noch eine neue Schreibweise ein. Und was macht das emotional mit Kindern, wenn sie drei Köpfe größer sind als Klassenkameraden und trotzdem weniger können?
Ein zweite vorgeschlagene Variante war der Unterricht nach dem Rahmenlehrplan der Sonderschulen: normal intelligenten, interessierte Kinder schließen damit nach mindestens 10 Jahren (wenn Vorschlag 1 zutrifft, auch länger) die Schulzeit mit dem Abschluss der 8. Klasse ab. Dass meine Kinder keine Ärzte oder Elektroingenieure werden, ist mir klar. Aber bekommt man als Gärtner oder Autoschrauber mit diesem Abschluss überhaupt eine Chance auf eine Ausbildung? Wo doch jeder Koch am besten Abitur braucht?
Letztendlich stand dann noch die Umschulung in die Förderschule im Raum: Mein kerngesunden, wortgewandten, phantasievollen, naturwissenschaftlich interessierten Jungs in eine Einrichtung mit dem „Förderschwerpunkt Lernen“ oder „emotionaler Förderbedarf“? Bei dieser Aussicht wird sogar das verbotene Homeschooling eine andenkenswerte Variante.
Die Lehrerschaft ist nicht mit der seit Jahren bestehenden Gesetzeslage vertraut, noch in irgendeiner Art und Weise auf die Inklusion vorbereitet. Personal, Wissen über Teilleistungsschwächen und Goodwill fehlen. Motivierte Kinder entwickeln Schulangst und verschenken ihr Potential. Ich erwarte keine Wunder, nur ein bisschen Bewegung im System und den Blick auf den Einzelnen. Meine Kinder sind nicht Variante a, b, oder c.
Letztendlich wird es wohl eine Umschulung auf eine Privatschule werden, welche die Kinder größtenteils in Ruhe lässt und „durchschleift“. Das finde ich elitär und unehrlich, aber wenn das staatliche Schulsystem nicht reagieren kann, muss ich meinen Kindern eben eine Schulzeit ohne Angst kaufen. Das Leben danach ist leider in keinster Weise käuflich, aber vielleicht haben sie so viel Stärke und Strategie entwickeln, dass sie ihren Weg auch ohne das Dehnungs –h machen.

Wer will, ist des Schicksals Freund, wer nicht, sein Knecht.

Cicero