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Die mysteriösen „man“

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Die mysteriösen „man“

Das macht man nicht! Man macht doch …. ! Was sollen die Leute denken?  Man (beliebiges Verb) das (beliebiges Adjektiv)…

Phrasen wie Peitschen. Kennt ihr das? Schon in meiner Kindheit reagierte ich allergisch auf das Wörtchen „man“ und fragte mich damals pubertär-aufsässig, heute ernsthaft:  Wo steht das, wer sagt das, warum soll ich das machen? Bekomme ich mal einen von den „man“ zu Gesicht? Ist das ein Mann oder eine Frau oder treten die nur als Gruppe auf? Können die reden oder nur ausführen?

Was passiert, wenn „man“(also in dem Fall ich) sich nicht so verhält, wie „man“ es soll? Werde ich sofort vom Blitz getroffen oder riskiere ich den Dorffluch? Schon immer habe ich in dieser Hinsicht gern provoziert – habe dem Besuch nicht die Hand gegeben, obwohl „man“ es so macht, habe keinen Tortenheber, obwohl „man“ einen hat, habe die Kinder nicht auf der örtlichen Schule eingeschult, obwohl „man“ das hier so macht (eigentliche Aussage: wir sind hier nicht in der Großstadt und ihr seid nichts Besseres). Dieses „man“ macht es so einfach, sich zu verstecken, nicht die eigentliche Meinung zu sagen bzw. überhaupt mit dem Denken zu beginnen.

Egal, ob es sich um kleine Alltagsdinge wie den Tortenheber oder wichtige Lebensentscheidungen handelt: wenn die Wörter „man macht…“  fallen, denke ich erstmal an das Gegenteil. Klar nehme ich auch Sachen an: wenn ich mich nach einem Obstbaumschnitt erkundige und der Bauer erklärt mir, dass man lieber soundso …, werde ich nicht das Gegenteil tun.

Was mich stört, ist dieses nicht hinterfragte und enggeistige Überstülpen von Konventionen, Rollen, Abläufen. Ich will nicht Teil der schafartige Masse „man“ ohne Meinung und Ideen sein. Ich bin ich, ich denke, hinterfrage und treffe natürlich auch Fehlentscheidungen. Aber es sind meine Entscheidungen und nicht die einer anonymen Gruppe, die mir ihre Aussagen nicht begründen kann. Die Torte kann ich genauso gut mit einem breiten Messer heben. Abgesehen davon backe ich keine Torte. Das kann damit zu tun haben, dass ich in meiner Kindheit überproportional häufig hörte:“Du musst dich doch dafür interessieren. Als Mutter muss man doch Kuchen und Torte backen können.“ Muss man nicht.

Ich bin in sehr engen Grenzen mutig, aber hier ist es mir wichtig, meinen Kinder zu zeigen, dass es die furchteinflössenden „man“ nicht gibt. Es ist egal was „die Leute“ (das sind die Nachbarn von „man“) sagen – wichtig ist, dass jeder seine eigenen Entscheidungen trifft und bestenfalls damit zufrieden ist.

Ganz emanzipiert grüßt heute

Neja

Konvention heißt Übereinkommen in Worten und Handlungen ohne Übereinkommen des Gefühls.

Nietzsche

 

Buch der Woche 1 -Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

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Buch der Woche 1 -Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

Das fängt nicht gut. Das erste Buch in meiner BdW-Reihe und ich habe nicht geschafft, es (ganz) zu lesen. Die Gründe sind ehrenhaft, doch dazu später.

Von Herrndorf steht schon seit Jahren sein dünnes Taschenbuch „In Plüschgewittern“ im Regal. Ich las es einmal und sortiere es aufgrund des Sujets (sensibler Mann verliert und findet sich in Kunst, Drogen, Frauen..) neben Matthias Altenburg und Joachim Lottmann ein. Gut und schnell lesbar, einige Anstreichstellen, aber nichts mit Sog.

Anders dann „Tschick“, welches mir schon länger bekannt war, aber Zeit brauchte, sich im Lesestapel nach oben zuarbeiten. Dieses Buch verschlang ich – ein Zustand, denn ich seit frühester Kindheit kenne, denn aber heute immer weniger Bücher in mir auslösen. Ich erinnere mich an die Rahmenhandlung, die mir verrückt, unmöglich, aber gerade deshalb möglich erschien. War da nicht eine Wartburgverfolgungsjagd im Braunkohlegebiet? Die intensiven Gefühle, Dialoge und Taten von Hauptperson, russischem Freund und Müllmädchen, die man nur in einer bestimmten Altersspanne genauso fühlt, sind mir bis heute im Gedächtnis.

Seinen nächsten Roman „Sand“ las ich nicht: damals bewusst, aber vielleicht hole ich es nach. Und dann die Diagnose und der Blog. Erschüttert und voller Respekt  verfolgte ich die Meldungen über sein Tun. Wie ich im Umgang mit Krankheit und dem Tod sozialisiert worden bin, übte ich mich auch hier in Ignorieren und Verdrängung. Ich traute mich nicht einmal, intensiv auf seinem Blog zu lesen – ich hielt das Gefühl nicht aus, einem Todgeweihten beim bewussten Sterben zuzusehen..

Die Todesnachricht, dann das Buch. Zweieinhalb Jahre schlich ich drumherum, bevor ich den Mut hatte, es auszuleihen. Zu Hause lag es noch einige Wochen unaufgeschlagen und konfrontierte mich mit meiner Urangst vor Krankheit, Leiden, Schmerz und Sterben. Ich machte zweimal den Versuch zu lesen – schaffte aber nicht mehr als ein paar Seiten. Der harmlose Einstieg im Pinguinkostüm, zwischendurch sensible Naturskizzen, das Ab und Auf der Krankheitsgeschichte und dann die bis zum Schluss so klar reflektierenden Selbstbeschreibungen.

Ich las die Anmerkungen und schloss das Buch tieftraurig. Andererseits auch unendlich beeindruckt von der Klugheit, Menschenliebe und Schaffenskraft Herrndorfs und seinem schlussendlichen Mut.

Und immer wieder vergesse ich die Sache mit dem Tod. Man sollte meinen, man vergesse das nicht, aber ich vergesse es, und wenn es mir wieder einfällt, muss ich jedes Mal lachen (…). Denn es geht mir ja gut.

Wolfgang Herrndorf

Traurig grüßt Neja