Archiv für den Monat Januar 2016

Ich kauf dir eine schöne Schulzeit

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Ich kauf dir eine schöne Schulzeit

Nein Lehrer, LRS ist nicht heilbar! Und nein Schulleiterin, der Knoten wird nicht platzen. Wer gleich platzt, bin ich.
Vorgeschichte: Als ich wegen eines Arztbesuchs meine Kinder vormittags in der Schule abholte, fand ich Sohn 1 völlig aufgelöst und verheult im Flur sitzen. Rot im Gesicht, zappelnd, sich mit den Händen an den Kopf schlagend. Vor sich eine Leistungskontrolle, die er nachschreiben musste; was an sich völlig in Ordnung ist. Aber um ihn herum Kinder, die ständig zur Toilette eilten und vor denen er seine Tränen zu verstecken suchte. Er stand enorm unter Druck, die ihm die ablaufende Zeit, der Inhalt der Arbeit und die anderen Kinder machten. Der verzweifelte kleine Kerl – wie gern hätte ich ihn in die Arme genommen. Aber er musste sich vor mir quälen. Sohn 2 kam mir mit seiner Arbeit in ähnlichen Zustand von irgendwoher entgegen. Die Jungs waren geistig und körperlich total erledigt, es brauchte zwei Stunden großer Mutteraufmunterungskunst, bis ich sie wiedererkannte. Kann man für das Nachschreiben nicht eine andere Örtlichkeit im Schulgebäude finden? Muss man Kinder mit dieser Symptomatik 45 min allein lassen?
Meine Söhne haben leider das komplette Rundumsorgenpaket von ADHS/LRS/Dyskalkulie/AVWS/undkeine Ahnungwasnochkommt mitbekommen. Ich bin wirklich keine dieser Mütter, welche die Sprachstandsentwicklung auf den Monat genau herbeten kann und bei jeder Auffälligkeit sofort Hochbegabung/ADHS/Autismus/Hochsensibilität … schreit. Mir wäre es tausendmal lieber, sie wären stinknormal, mittelmäßig, von mir aus auch faul. Es wären uns literweise Tränen und quälende Gedanken erspart geblieben. Ich habe mich sehr schwer getan, jedes Jahr eine neue Diagnose zu akzeptieren, welche die Aussicht auf eine sorglose Schulzeit nochmals verschlechterte. Ich hätte aber gern noch dreimal so viel Zeit, Geld und Nerven für Ärzte, Therapien, Nachhilfen, Hilfsmittel investiert, wenn die Chance auf Besserung bestünde. Tut sie aber nicht. Meine Söhne haben einen IQ leicht über Normalwert, sind verbal sehr stark und sozial kompetent. Sie lesen, haben eine gute Allgemeinbildung und ein enormes Gedächtnis. Sie können aber nicht schreiben/rechnen/stillsitzen – und nur das zählt im deutschen Regelschulsystem.
Ich setze mich in Lehrerweiterbildungsseminare und versuchte am Wochenende einige Defizite aufzufangen. Ergebnis: viele Tränen, noch mehr Wut und kein Wochenende bei allen Beteiligten. 0,01% Erkenntniszuwachs bei den Betroffenen. Ist es das wert? Nachdem der letzte medizinische, therapeutische, pädagogische, heilpraktische und ich gestehe, esoterische Strohhalm verbraucht war, akzeptierte ich die Tatsachen und versuchte, den Schulalltag der Kinder erträglich zu gestalten. Bei der Recherche fanden sich tolle Sachen wie Förderunterricht, Nachteilsausgleich und Hilfsmittel wie eine Spracherkennungssoftware. Euphorisch wanderte ich zur Schule und bekam zu hören: „Wie, mündliche Abfrage? Dann wollen das ja alle.“ „Vorn soll er sitzen?“ „Geht nicht, er ist zu groß.“ „Einen Computer, der allein mitschreibt?“ „Jetzt hörn Sie aber auf!“ Seitdem wuseln wir uns mit zunehmender Frustration durch ausfallenden Förderunterricht und dem kompletten Desinteresse, mit einigen Ideen und didaktischen Hilfsmittel den Unterricht für die Kinder anzupassen. Schon eine Kopie des Tafelbildes, die man zu Hause in Ruhe abschreibt und dadurch den Stoff für den nächsten Test auch wirklich lernen kann, würde reichen. Das macht aber Arbeit, braucht Engagement und ein bisschen Herzblut – eigentlich Eigenschaften, die mindestens bei Grundschullehrern zu erwarten sind.
Als bewährten Vorschlag zur Problemlösung bat man mir hingegen den Verbleib in der Klassenstufe an. Wie lange sollen die Kinder denn verharren? Nur weil ich dreimal die Großschreibung lerne, muss ich sie nicht kapieren. Der vielbeschworene Knoten wird auch dann nicht platzen, wenn ich 100mal das gleiche Wort übe. LRS-Kindern fällt drei Tage später noch eine neue Schreibweise ein. Und was macht das emotional mit Kindern, wenn sie drei Köpfe größer sind als Klassenkameraden und trotzdem weniger können?
Ein zweite vorgeschlagene Variante war der Unterricht nach dem Rahmenlehrplan der Sonderschulen: normal intelligenten, interessierte Kinder schließen damit nach mindestens 10 Jahren (wenn Vorschlag 1 zutrifft, auch länger) die Schulzeit mit dem Abschluss der 8. Klasse ab. Dass meine Kinder keine Ärzte oder Elektroingenieure werden, ist mir klar. Aber bekommt man als Gärtner oder Autoschrauber mit diesem Abschluss überhaupt eine Chance auf eine Ausbildung? Wo doch jeder Koch am besten Abitur braucht?
Letztendlich stand dann noch die Umschulung in die Förderschule im Raum: Mein kerngesunden, wortgewandten, phantasievollen, naturwissenschaftlich interessierten Jungs in eine Einrichtung mit dem „Förderschwerpunkt Lernen“ oder „emotionaler Förderbedarf“? Bei dieser Aussicht wird sogar das verbotene Homeschooling eine andenkenswerte Variante.
Die Lehrerschaft ist nicht mit der seit Jahren bestehenden Gesetzeslage vertraut, noch in irgendeiner Art und Weise auf die Inklusion vorbereitet. Personal, Wissen über Teilleistungsschwächen und Goodwill fehlen. Motivierte Kinder entwickeln Schulangst und verschenken ihr Potential. Ich erwarte keine Wunder, nur ein bisschen Bewegung im System und den Blick auf den Einzelnen. Meine Kinder sind nicht Variante a, b, oder c.
Letztendlich wird es wohl eine Umschulung auf eine Privatschule werden, welche die Kinder größtenteils in Ruhe lässt und „durchschleift“. Das finde ich elitär und unehrlich, aber wenn das staatliche Schulsystem nicht reagieren kann, muss ich meinen Kindern eben eine Schulzeit ohne Angst kaufen. Das Leben danach ist leider in keinster Weise käuflich, aber vielleicht haben sie so viel Stärke und Strategie entwickeln, dass sie ihren Weg auch ohne das Dehnungs –h machen.

Wer will, ist des Schicksals Freund, wer nicht, sein Knecht.

Cicero

 

Papiernazi

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Papiernazi

Ich habe kürzlich 7 kg einseitig bedrucktes Papier weggeworfen. So.

Mmmhhh…. Tiefes Einatmen mit strafendem Augenbrauenhochziehen auf der anderen Seite. Das macht man doch nicht! Du Papiernazi. Die Bäume, das Klima, du bist mit Schuld, wenn die Welt zugrunde geht, blabla…

Lange Jahre sammelte ich alles Bedruckte bis zum Format A5 und stapelte es zu hohen Türmen, in der Hoffnung auf Verbrauch irgendwann durch irgendwen. Sogar bei den letzten Umzügen schleppte ich einen Karton einseitig bedrucktes Papier mit. Man müsste mal die Ökobilanz des gefahrenen Umzugskartons (immerhin 300 km) im Verhältnis zum Otto-Billig Neublock ausrechnen, aber ich wollte alles richtig machen.

Ich habe zwar drei kritzelwütige Kinder, die müssten aber bis zum Rentenalter malen, um die Stapel ansatzweise abzutragen. Sie sind auch in einem Alter, wo sie Bilder verschenken oder Papier verbasteln und da ist es schon peinlich, wenn auf der Rückseite die Mahnung für obskure Abnehmpräparate oder Seminarmaterial über die psychosoziale Entwicklung des Kindes zu sehen sind. Außerdem benutzen wir aus Geiz äh Sparsamkeitsgründen dünnes Papier, was bedeutet, dass die Druckerzeilen durchschimmern. Die Kids haben also kein rein weißes Blatt vor sich, was den Malspaß erheblich schmälert, weil man die grauen Linien in das Bildsujet einbauen muss.

Ich selbst schreibe zwar alle Konzepte, Pläne und Listen auf diesem Papier vor – mehr als 5 Blätter pro Woche verbrauche auch ich nicht. Stattdessen quetsche ich täglich fünf neue Blätter in die Ablagen – Rechnungen, falsche Kopien, Werbung. Es kommt mir vor, wie das Märchen vom süßen Brei – nur dass bei mir Papier- und nicht Breiberge quellen (mit letzterem könnte ich mich ja noch anfreunden).

Im zweiten Emanzitionsschritt habe ich sogar schon gewagt, Bücher in den Papierkorb     (nie in den Ofen) zu werfen. Diese waren total zerfledert, rochen komisch und/oder waren fragwürdigen Inhalts. Gerade bei letztem Punkt ist meine Toleranzschwelle sehr sehr hoch. Weg kommen nur Druckwerke, die eindeutig Auftragsliteratur sind und indoktrinieren sollen. Der Rest wandert in die Kiste mit den langweiligen, unterfordernden oder nicht mehr benötigten Büchern. Diese ist fast voll und wird bald verschenkt. Ich selbst bin sehr kritisch, kann aber nicht über den Unterhaltungswert für andere richten. Vielleicht freut sich doch jemand über „Der Jagdhund“ oder den Sick’schen „Dativ“.

Zurück zum Papier. Dieses liegt jetzt in der blauen Tonne, wird (hoffentlich) receycelt und begegnet mir vielleicht in Form einer Zeitschrift oder eines schönes Notizheftes wieder.

Verschlankt grüßt

Neja

  • Ich weiß natürlich, dass der Begriff „Papiernazi“ eine negative Bedeutung hat und damit die Schreibtischtäter unter Hitler bezeichnet wurden, welche auf dem Papier Befehle erteilten und sich nicht die Hände schmutzig machten. Aber Mensch, ich will nicht immer politisch korrekt sein, hat mir ja beim Papier auch nichts gebracht.

 

Die Basis einer gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.

Kurt Tucholsky

Buch der Woche 4 -Natalia Sanmartín Fenollera: Das Erwachen der Señorita Prim

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Buch der Woche 4 -Natalia Sanmartín Fenollera: Das Erwachen der Señorita Prim

Dieses Buch habe ich nicht verstanden. Eine Freundin schenkte es mit den Worten: „Ist mal was anderes.“ Oja, endlich mal ein Buch ohne Handlung, ohne Message, ohne Spannung.

Eine junge Frau kommt als Hauslehrerin zu Kindern, die über den Bildungskanon 70jähriger Doppelprofessoren verfügen. Vorhersehbar bringen die Kids unerträglich altklug den emotional verletzten Hausvater und die sensible Neulehrerin zusammen. Natürlich darf die unkonventionelle und überdrehte Schwiegermutter nicht fehlen, welche nach einer Herzensprüfung den Segen erteilt. Mehr passiert nicht. Das ganze in einem Ort, in dem jeder Einwohner nur seiner Bestimmung und Berufung nachgeht. Dabei hat er viel Zeit, um ausufernde salbadernde Gespräche mit der Neubürgerin führen zu können. Diese erfährt durch die sinnlosen Dialoge nicht überraschend natürlich auch noch eine Persönlichkeitswandlung. Hört sich an wie eine Bahnhofsbuchhandlungsschundroman, kommt aber im seriösen Gewand von Pieper daher.

Der eh schon dröge Coelho unter Valium mit einer Prise Utopia, aber alles unendlich laaangweilig.

Was mache ich damit? Zu der Kiste mit den 100 anderen Büchern, die ich mich nicht mal zu verschenken wage?

Müde grüßt Neja

Kein würdiges Zitat.

Buch der Woche 3 -Stefan Maelck: Ost Highway

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Buch der Woche 3 -Stefan Maelck: Ost Highway

Schlüpfer. Es geht um Schlüpfer.

Ich weiß gar nicht, wie dieses Buch zu mir gekommen ist, wahrscheinlich Grabbelkiste oder Biblioteksgratisabgabe. So könnte ich mir erklären, warum das Druckwerk nach Kotze riecht.

Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Ein kurzweiliger Krimi über eine Ostradiomoderatorin, welche mit einem Schlüpfer erwürgt wurde. Die Dama wurde als IM Maja geoutet, was auf frühe Schandtaten und späte Rache deutet. Ihr Kollege Meyer, im Zweitjob Privatdedektiv, bringt mit Hilfe seines hessischen Buddys, einem Lousiannatrip und viel Alkohol Licht nach „Dunkeldeutschland. Aber keine Sorge, weder Ostdissing noch tiefe politische Abhandlungen sind in dem Band zu finden, dafür Unmengen von musikalischen Zitaten und Anspielungen. Maelck übertrifft Hornbys „High Fidelity“ um Längen, wobei die Musikrichtung eine ganz andere ist. Manchmal wird es zuviel, wenn jeder Dialog zwischen Meyer und seinem Kumpel Heuser aus geheimen Expertensongzeilen besteht. Das ganze im Sprachstil von supercoolen, wortkargen hardboiled dedective Vorbildern (bewusst oder nicht gut kopiert, erschloss sich mir nicht). Ansonsten ist nichts hard oder gewalttätig in diesem Buch, der Protagonist heult beim Plattenauflegen und gemordet wird mit Schlüpfern.

Die Namen der Figuren sind für mich als ehemalige Onomastin (ja, googelt ruhig) ein Fest. Hank Meyer (und wie er selber richtig sagt, der Name ist noch besser als Dschingis Lehmann), Gerda Lattke, Gisela Manfraß, Fallbeil und Bösendorfer. Auf die Dauer nerven die obercoolen,  zynischen Dialogen, die Meyer mit allen Gesprächspartner führt, aber die Kurve zum Happy-End, bei dem alle froh sind, den Täter nicht gestellt zu haben, ist gelungen. Das Buch liest sich flüssig weg, oft musste ich grinsen bis gickern – der richtige Kandidat für meine 10 min Bettlektüre.

Es gibt einen zweiten Fall von Hank Meyer („Tödliche Zugabe“) – wenn ich den ohne Geruchsspuren kriege, lese ich ihn auch.

 

Am Nebentisch saß eine Runde Kunstpatienten, bei denen Wiglaf Droste Essayismus im Endstadium diagnostiziert hätte.

aus „Ost Highway“

Erheitert grüßt

Neja

 

 

 

Golems night

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Golems night

Nach acht Jahren Selbstständigkeit endlich wieder im soliden Angestelltenverhältnis. Ich genoß meine erste Weihnachtsfeier mit viel essen, noch mehr trinken und Sachen ausplaudern, die man eigentlich gar nicht sagen will. Am Anfang noch züchtig bei Wein, floss drei Stunden später der Wodka. Und er floss wirklich, über den Tisch, die Kleidung… Vorbildlich Diversity lebend, haben wir eine hohe Russendichte unter den Mitarbeitern. Kein Problem für mich, denn siehe hier. Die Chefin bot allen da Du an – (das zweite Jahr in Folge, wie ich später erfuhr) und nahm es am nächsten Montag wieder zurück. Ich liebte meine Kollegen durchgängig und verzieh ihnen gewesenen und prophylaktisch auch schon mal zukünftigen Stress. Auch die Geschäftsleitung tat kräftig an allem Unsinn mit. Zur später Stunde schloss der Wirt das Lokal und wir konnten drinnen tanzen und rauchen. Besonders ersteres mache ich gern, aber viel zu selten. Zweitens tue ich selten und nicht einmal besonders gern. Egal, enthemmt wackeln wir zu James Brown und fühlen uns gut.

Der abholende Gatte besah sich die Lage erst mal von draußen. Kurzzeitig dachte er, der Golem wäre zurückgekehrt, so übergroß und unmotorisch warf unsere Tanzerei den Schatten an die Häuserwand. Nachdem er sich hereingetraut hatte, musste er noch über eine Stunde warten, bis seine Frau ihre kompletten Tanzkünste gezeigt (wir waren musikalisch bei Sisters of Mercy und Rage against the Machine angelangt) und sich von ihren neuen Freunden verabschiedet hatte.

Das Wochenende verging mit Katerbekämpfung und Selbstzermürbung.  Akzeptieren die mich noch? Kann ich mich auch albern und schwach zeigen? Nehmen meine Mitarbeiter noch Anweisungen an, wo sich mich zu ‚Killing in The Name of‘ haben zappeln sehen? Wie soll ich der Geschäftsführung meinen Gehaltserhöhungswunsch verkaufen, nachdem ich in der großen Witzerunde: „Ich erzähl jetzt was mit Sex!“ geschrieen hatte?

Montag: Ich bin als Erste da und täusche Fleiß vor, das Tastaturklackern hört man bis in den Flur. Der Erste erscheint, den Blick gesenkt, zögernd quälen wir uns durch Smalltalk. Kein Wort zur Weihnachtsfeier. Nach und nach schleicht sich die ganze Bande herein, alle außergewöhnlich still. War ich soo peinlich, dass sie jetzt nur noch den nötigsten Kontakt mit mir suchen? Erleichternd kapiere ich: Nee, nicht nur ich, die haben sich ja alle zum Klops gemacht. Wie war das mit dem Mitarbeiter, der 20 min mit einem über dem Kopf erhobenen Stuhl dastand? (Warum, weiß er selbst nicht.) Und der Kollegin, die zu dem Omaknaller „Das rote Pferd“ gardemäßig die Beine in die Luft warf? Der Chef, der eine oberpeinliche Polonaise anführte und später machomäßig Zigarre paffte? Wir nahmen uns alle nichts. Nach und nach tauen die Kollegen auf und es werden die Geschichten der Nacht rekapituliert. Nachdem die blödeste Aktion gekürt wurde, geht es ziemlich fix ans Tagesgeschäft. Schön, wenn man zusammen peinlich und professionell sein kann.

Der Oberste brubbelt gegen Mittag: „War ’ne coole Party am Freitag. Ich hab Leute, die können gut feiern und gut arbeiten.“

Gerne ab und zu ein Golem

Neja

 

Glück ist immer das, was man dafür hält.

Ingrid Bergmann

Buch der Woche 2-Leonid Jusefowitsch: Das Medaillon

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Buch der Woche 2-Leonid Jusefowitsch: Das Medaillon

Zäh, ganz zäh. Fast hätte ich das zweite Buch meines Projekts nicht zu Ende gelesen, diesmal aus Gründen der Langweiligkeit und der Fadheit.

Ich habe es ja eigentlich mit den Russen. Während in der 9. Klasse im schuleigenen Bestellclub alle anderen das legendäre Aufklärungsbuch „Denkst du schon an Liebe?“ bestellten , orderte ich Puschkins Jugendbiografie „Alexander in Zarskoje“. Dann später die Gedichte und meine Liebe zu wehmütiger Dramatik und unglaublich langen Namen war erwacht.

Heute stehen noch Dostojewski (auch irgendwie zäh), Gorki und Tschechow im Regal, von den neueren Vertretern Jewtuschenko und Ulitzkaja. Ein ungelesenes Schmankerl, auf das ich mich freue, ist Viktor Pelewin mit „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin„. Ein Buch mit diesem Titel muss einfach gut sein. Ich habe alle Bände von Boris Akunins „Fandorin-Reihe“ verschlungen und schätze die Geschichts-und Literaturanspielungen. Ein bisschen Spannung, ein bisschen Mystik, Wortwitz und natürlich der Charme und die Exentrik des Protagonisten Erast Fandorin.  Ihr merkt, ich stehe auf so Cumberbatch-Holmes-Typen. Natürlich ist das keine Hochliteratur, aber für die 10 Bettminuten genau das richtige Niveau. Ich dachte, die Putilin-Reihe wäre eine moderne Fortsetzung. Aber ich quälte mich, ich quälte mich. Auch dieses Buch strotzt vor Geschichts-und Literaturverweisen, die sind mir aber zu hoch. Oder wusstest ihr, dass es in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen militärischen Konflikt zwischen dem türkischen Sultan Mahmud II. (1784-1839) und seinem Vasallen Mehmed Ali(1769-1849) gab, der Ägypten aus dem Osmanischen Reich lösen sollte? Fünfzeiligezeilige Fußnoten, da kam der Geschichtsprofessor in Jusefowitsch durch. Rahmenhandlung: Der Polizeipräsident Iwan Putilin erzählt einem Schreiber seine Biografie und damit auch den Fall des mysterösen Medaillons, welches den Empfänger vor seinem baldigen Tod warnt. Eine verschwundene Großmutter, zwei Giftmorde, einen erdrosselten Hund, der dann doch noch lebt, stellt sich heraus, dass es sich um eine banale Fremdgeh-und Erbengeschichte handelt. Irgendwas mit Freimaurern war auch noch. Ganz nett, aber auch etwas verwirrend ist, dass sich Biograf und Putilin ständig auf der Metaebene über leserfreundlichere Änderungen in der Geschichte unterhalten.

Es soll noch zwei Bände geben. Mir egal.

 

… war die gut dreißig Jahre alte Baronin eine jener hauptstädtischen Halbweltdamen, auf deren Gesicht mit Geheimtinte, die im Gespräch mit einfachen Sterblichen sichtbar wurde, das Jahreseinkommen ihres Gatten geschrieben stand.

aus „Das Medaillon“

Do swidanja

Neja

Über die Unwichtigkeit von Zahnpastaflecken

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Über die Unwichtigkeit von Zahnpastaflecken

Wie oft wollt ihr eure Familie tauschen? Zweimal im Jahr, dreimal im Monat, täglich?

Bei mir war es gestern wieder soweit. Während ich wehmütig den Weihnachtsschmuck wegräumte, tobte es um mich herum (kindlich), zickte es schnippisch (pubertär) und grummelte es (midlifekriselig). Die erste Kugel zerschellte, die Tür knallte und der Kater kämpfte mit dem Hund, welcher wiederum vor Angst seinen Fressnapf umstieß. Da dachte ich sehr sehr intensiv: am liebsten möchte ich euch alle in die Kisten packen, ganz hoch auf das Regal stellen und erst zum Jahresende wieder hervorholen. Oder ich packe mich ein paar Monate ein und entspanne mich neben Filzschaaf und Nudelengel. Die geben keine Widerworte und verursachen keinen Trubel. Auf den vielen Strohsternen liegt es sich bestimmt gut.

Warum ist es bei uns oft so laut, so chaotisch und so unpädagogisch? Benahmen sich die vielen Gastkinder, die über Silvester da waren, so? Benahmen sich deren Eltern so? Kann ich nicht für vier Wochen in eine Familie tauschen, wo das Essen ohne Nörgeln und der Abend ohne Meckern und Schreien abläuft? Gibt es Grundschulkinder, die nicht jedesmal, wirklich jedesmal das Waschbecken voller Zahnpasta hinterlassen? Wo der Kater immer das Katzenklo trifft und der Gatte am Abend nicht eine Stunde braucht, um sich wieder an die Familie zu gewöhnen? Aber diese Superkinder würden aus Streberhaftigkeit bestimmt keine Erdbeereisregenbilder in ihre Schulhefte malen, welche die Lehrer bemeckern, ich aber zauberhaft finde. Diese Kinder würden mir keine krummen „maschasche“- Gutscheine anfertigen und auch einlösen. Das Teenikind wäre zwar nicht widerborstig, würde sich aber auch nicht trauen, mit mir seine geheimsten Gedanken und erstaunlich tiefe philosophischen Fragen zu besprechen. Der Superduperehemann würde sich zwar jederzeit pädagogisch wertvoll mit den Kindern beschäftigen, hätte aber Schiss, verrückte und manchmal leicht gesetzeswidrige Abenteueraktionen durchzuziehen, an die sich die Kinder ganz sich ihr Leben lang erinnern werden.

Am nächsten Morgen sah ich die Entschuldigungsbriefchen, in denen mehr Buchstaben falsch als richtig waren, den Frühstückstisch mit Servietten und Rührei und den plötzlich aufgetauchten Tulpenstrauß. Sogar die Viecher fraßen einmütig aus einer Schüssel.

Ich atmete tief durch und beschloss: „Na gut, über den Sommer behalt ich euch doch. Her mit der Handbürste!“

Neja

Die meisten Menschen sind so glücklich, wie sie es sich selbst vorgenommen haben.

Abraham Lincoln

Abschied oder Smalltalk Tabus

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Abschied oder Smalltalk Tabus

Liebe Freundin,

es ging schnell mit uns. Ich konnte gar nicht fassen, dass ich mit über 40 Jahren noch mal eine enge Freundin finde. Du stolpertest mir über den Weg und innerhalb kürzester Zeit hatten wir unsere Familien verzahnt und uns im nächtelangen Einsatz unser Leben erzählt. Schnell sehr vertraut, schnell sehr persönlich – weil du so unkompliziert und neugierig auf uns warst. Konnte es sein, dass es (neben meinem unerreichten Gemahl) jemanden gab, der meine nicht ganz so einfache Sicht und Einstellung teilte, der meine Sätze ergänzte? Wir lachten, tranken und redeten viel in diesen zwei Sommern und erreichten rasend schnell eine Stufe der Vertrautheit, die in andere Freundschaften in 20 Jahren wächst. Unserem Umfeld war das unheimlich und einige kamen auch mit deiner speziellen Art nicht zurecht. Bei unseren letzten Treffen war auch ich nicht mehr so unbeschwert, da ich deine Neugier zunehmend belastend empfand. Ich hatte das Gefühl, mich für vieles erklären und rechtfertigen zu müssen und die Leichtigkeit in unseren Gesprächen war vorbei.

Und dann kam dieser Sommerabend. Laue Luft und Laternen. Ich war diesmal ganz unvoreingenommen und freute mich riesig auf dich. Wir redeten und tranken und das in loser Folge, schnell und viel. Noch vor Mitternacht stolperten wir über ein klassisches Smalltalk Tabu, obwohl wir über diese Stufe längst hinaus waren, sie eigentlich nie probiert hatten. Politik. Ich sagte was Doofes, du sagtest was Doofes und am Schluss etwas ziemlich Gemeines. Dann nur noch Tränen. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Seitdem habe ich mir fast jeden Tag den Kopf zerbrochen, was da eigentlich passiert ist. Was schwelte da die ganze Zeit, was jetzt zu explosiv zum Ausbruch kam? Du löstest zum Leidwesen aller Kinder die Familienconnections und zeigtest kein Interesse an einer Aussprache. Ich fühlte mich geschockt, wütend, traurig – fand aber keinen Weg, dich in mein Leben zurückzuholen.

Ich danke dir, dass du ein großes Problem für mich geklärt hast. Ich danke dir für Tage am See und Nächte am Feuer. Deine Offenheit hat mich angesteckt und ich übernahm sogar einige deiner Sprachticks.

Ich danke für die Erfahrung. Aber nun ist es genug.

Neja

Einen richtigen Abschied erkennt man daran, daß er nicht mehr weh tut.

Hans Noll

Drahtbügelamok

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Drahtbügelamok

Boah, kennt ihr das? Ihr wollt ein Kleidungsstück aus dem Schrank ziehen und entweder hakt es wie die Hölle und ihr müsst ewig ziehen und zerren und/oder es kommen euch gleich mehrere Teile entgegengeschossen, die natürlich auch ineinander verwurschelt sind. Im schlimmsten Fall pieksen euch die Drahtbügelspitzen ins Gesicht.

Ich hatte den täglichen Nahkampf am Kleiderschrank satt. In einem Wutanfall riss ich alles, was irgendwie glänzte heraus und arbeitete mich daran ab, blutige Ritzer in den Händen inklusive.  Das Ergebnis war ein wirres-irres Knäuel, welches nicht einmal fotografierwürdig ist und die haptisch-motorische Aufarbeitung meines seit Jahren währenden Drahtbügelhasses darstellte.

Woher kommen die Dinger eigentlich? In den Kaufhäusern gibt es Plastikbügel, mit den dünnen Drahtteilen würden die armen Zurücksortiererinnen doch durchdrehen. Ich kann mich nicht erinnern, wie und woher unser Haushalt in den Besitz von ca. 50 Drahtbügeln kommt (jetzt nur noch 20, hähä).

Es gibt zwar nette DIY-Ideen wie diese hier, aber da dieser Blog ist ein gepflegter Anti-DIY-Blog ist und ich außerdem nicht mehr täglich die Objekte meines regelmäßigen Ärgers sehen möchte – ab in die Tonne.

Holzbügel besorgt, Kleiderschrank geordnet, einen kleinen Aufreger aus der Welt geschafft. Es wird.

Leichtmetallbefreit grüßt

Neja

*Reinigung, aha Reinigung (50 mal?)

Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.

Marie von Ebner-Eschenbach

Staunen, Schmerz und Stolz

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Staunen, Schmerz und Stolz

Meine Kinder werden zu schnell groß. Diese unabänderliche Elternerfahrung machte ich über die Feiertage mehrmals intensiv. Hat sich die Tochter vor zwei Jahren noch über ein Riesenkuscheltier gefreut, lagen in diesem Jahr Nagellack und eine Kamera unterm Baum. War bei der Silvesterparty im letzten Jahr das Bleigießen das beste Event, wurde dieses Jahr gemosert, dass „keine Jungs“ da wären. Ich beobachte diese Entwicklung mit Staunen, Schmerz und Stolz. Täglich und in genau dieser Reihenfolge. Jetzt geht wohl die Reise los, welche Uta hier so wunderbar an ihrem Sohn beschrieben hat. Egoistischerweise möchte ich diese Reise solange wie möglich begleiten.

Um nicht ganz in Wehmut zu versinken, verwandeln wir jetzt Trübsinn in Nostalgie. Ich präsentiere die Top Ten der besten Warum-Fragen dieses Baldnichtmehr-Kindes:

1.Lachen die Menschen in anderen Ländern anders?

2. Wenn man mit der Rakete in den Himmel fliegt, kann man dann die Sterne abmachen?

3. Mama, als du ein Kind warst, haben da die Dinosaurier noch gelebt?

4. Wächst man auch beim Laufen?

5. Wann hat der Urlaub Ferien?

6. Warum hat eine Stecknadel eine Spitze?

7. Was ist hässlich?

8. Was ist glücklich?

9. Wann sterbe ich? Wie sieht man aus, wenn man gesterbt ist?

10.Müssen wir in Griechenland wirklich alle nackig rumlaufen?

Mit melancholischen Grüßen

Neja

*zum Foto: Vor gar nicht langer Zeit wurden statt Fingernägel noch Schnecken bemalt.

Wir haben, wo wir uns lieben, ja nur dies: einander lassen; denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu erlernen.

R.M. Rilke